Die Typographia Sinica im Humboldt Forum
Dies ist die aktualisierte Fassung eines zuerst im Bibliotheksmagazin (1/2019) erschienenen Artikels von
Cordula Gumbrecht, Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, und
Christian Fischer, Staatliche Museen zu Berlin
Im Frühjahr 2017 hatte die Ostasienabteilung der Staatsbibliothek eine Leihanfrage seitens der Gründungsintendanz des im Zentrum Berlins entstehenden Humboldt Forums erreicht. Im Zuge von Recherchen für die „Spuren. Geschichte des Ortes“, Ein-Objekt-Ausstellungen, die die wechselvolle Geschichte des historischen Ortes, beginnend beim Schloss des Großen Kurfürsten bis hin zum Palast der Republik veranschaulichen sollten, war man auf die Typographia Sinica von Andreas Müller (um 1630-1694) aufmerksam geworden, ein Objekt aus den frühen Anfängen der Kurfürstlichen Bibliothek, das neben Kostbarkeiten und Raritäten das Interesse des Kurfürsten für die Künste und Wissenschaften sowie sein intellektuelles Umfeld illustrieren soll.
Im Zuge der Vorbereitungen auf die Präsentation im Humboldt Forum und weiterführende Projekte zur frühen Sammlungsgeschichte der Ostasienabteilung wurde die Typographia Sinica mittels Multi Kamera Photogrammetrie in Gänze (das Möbel und alle enthaltenenen Drucktypen) 3D digitalisiert. Das Verfahren wurde auf der 26. Electronic Media and Visual Arts (EVA) im November 2019 in Berlin vorgestellt. Ein erster Eindruck von den Ergebnissen dieser Digitalisierung kann hier gewonnen werden.
1969 wurde die Typographia Sinica erstmals aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens der Orientabteilung der vormaligen Deutschen Staatsbibliothek (Berlin-Ost, Unter den Linden) gezeigt, drei Jahrzehnte später war sie im Rahmen der seinerzeit vielbeachteten Ausstellung im Neuen Palais in Sanssouci, Potsdam, (Der Große Kurfürst : 1620 – 1688. Sammler, Bauherr, Mäzen) zu sehen; nun ist es gerade einmal fünf Jahre her, dass sie zusammen mit weiteren Leihgaben aus der Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, allesamt frühe Sinica aus der Büchersammlung des Großen Kurfürsten, im Kunstgewerbemuseum (im Schloss Köpenick, Berlin) einen der Höhepunkte der Schau Lob der Guten Herrschaft. Die Lackkunst des Gérard Dagly im Berliner Schloss darstellte. Während mit ersterer dem dreihundertsten Todestag des Großen Kurfürsten gedacht und seine Verdienste für das Land Brandenburg gewürdigt wurden, widmete sich letztere speziell dem Wirken des Lackkünstlers Gérard Dagly (ca. 1660–1715) am Hofe desselben: Dagly war im Jahr 1686 vom Großen Kurfürsten nach Berlin gerufen und im Jahr darauf zum Kammerkünstler ernannt worden. Der Kurfürst hegte generell eine starkes Interesse für alle wissenschaftlichen und technischen Gerätschaften und die damit verbundenen Erkenntnisse, und so beherbergten die Sammlungen in den Kunst- und Raritätenkammern im Apothekerflügel seines Berliner Schlosses zahlreiche Kostbarkeiten, wie Naturalien, Kuriositäten, Münzsammlungen (Numismata) und Antiquitäten aus der ganzen Welt, für dessen Aufnahme er eigens Kabinette anfertigen ließ. Besonders bemerkenswert unter diesen sind die vom Hoftischler Berend Lewen ausgeführten und von Gérard Dagly mit asiatischen Lackarbeiten dekorierten, prachtvollen Münzschränke, die zugleich in hervorragender Weise seine Begeisterung für Ostasien widerspiegeln. Zugleich beabsichtigte er, nach niederländischem Vorbild in Berlin eine ostindische Handelsgesellschaft zu gründen, um am lukrativen Handel mit China teilzuhaben und das durch den Dreißigjährigen Krieg von Bevölkerungsverlusten schwer gezeichneten Land zu Reichtum und Macht und, wie er in der „Instruktion für den Geheimrath Paul Fuchs“ von 1684 schrieb, seinen „Unterthanen … zu Nahrung und Unterhalt …“ zu verhelfen. Der Große Kurfürst hatte einen vierjährigen Jugendaufenthalt in Holland verbracht und 1646 Louise Henriette von Nassau-Oranien (1627-1667) geehelicht. Durch Vermittlung seines Schwiegervaters, des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien (1584-1647) lernte er 1647 den in Seefahrt und Handel höchst erfahrenen holländischen Admiral Aernoult Gijsels van Lier (um 1593-1676) kennen, der bereits mit 16 Jahren in Diensten der Ostindischen Kompanie gestanden hatte und 1618 Oberkaufmann und Flottenbefehlshaber über die Kontore von Ambon (Molukken) geworden war. Dieser beriet ihn nun in seinen Kolonialplänen. Im Jahr 1651 ernannte der Große Kurfürst Gijsels van Lier zum Geheimen Rat und betraute ihn mit dem Amt in Lenzen (an der Elbe). Zwanzig Jahre später verhandelte er mit ihm, dessen chinesische Bücher, vornehmlich in chinesischer Sprache verfasste Werke von jesuitischen Missionaren, zu erwerben. Die Pläne des Großen Kurfürsten für eine kurbrandenburgisch-ostindische Kompanie und somit für eine Expansion gen Ostasien wurden nicht verwirklicht, geblieben sind die Sinica seiner Privatbibliothek.
Beteiligt an den Verhandlungen zum Kauf der Sinica aus dem Besitz van Liers war Andreas Müller (um 1630-1694) aus Greifenhagen in Pommern, seit 1667 Probst an der Nikolaikirche in Berlin und neben Christian Mentzel (1622-1701), seit 1658 Leibarzt und kurfürstlicher Rat Friedrich Wilhelms und von 1685-1692 mit der chinesischen Büchersammlung des Kurfürsten betraut, auch er eine Zentralfigur der frühen Sinologie in Deutschland. Er hatte in Rostock und Wittenberg Theologie und orientalische Sprachen studiert, erlangte 1654 an der Universität Rostock die Magisterwürde. Die gesicherte materielle Lage seines Vaters erlaubte ihm den Besuch mehrerer Universitäten wie auch Reisen nach England und Holland. 1658 schrieb er sich im holländischen Leiden in die Matrikel ein und traf auf Gelehrte, die sich der Erforschung des Chinesischen widmeten, wie z.B. Jacob Golius (1595-1667) und einen gewissen J. Morin aus Amsterdam, von dem er schon damals Chinesisches erhalten haben soll. Müller galt schon bald als Gelehrter, der sich vor allem in verschiedenen orientalischen Sprachen auszeichnete. 1664 wurde er wegen u.a. aufgrund dieser Kenntnisse vom Großen Kurfürsten als neuer Probst von Bernau berufen, was ihm die Möglichkeit bot, sich mit den orientalischen Handschriften der Kurfürstlichen Bibliothek zu befassen. In einer Dankeswidmung von 1665 (Excerpta manuscripti cujusdam Turcici …) schrieb Müller denn auch, der Große Kurfürst habe ihm von Anfang an die Benutzung der Bibliothek gestattet. Unter den Kostbarkeiten der Bibliothek hob Müller die Orientalia mit ihren „Tschinensia“ hervor – die wohl früheste bekannte Erwähnung von Sinica in der Bibliothek des Kurfürsten überhaupt. Wenig später folgte sein Wechsel nach Berlin, und von nun an galt sein besonderes Interesse dem Chinesischen. Er führte einen regen Briefwechsel mit den bekannten Gelehrten seiner Zeit, so z.B. mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Athanasius Kircher (1602-1680), seit 1670 publizierte er zu chinesischen Themen.
Bereits zwei Jahre zuvor soll ihm die Idee gekommen sein, einen chinesischen Schlüssel (Clavis Sinica) zu verfassen, “vermittelst welchem die Sinesische, bey anderen verzweifelte Schrift ohne Mühe zu lesen, und in wasserley Sprache zu translatiren” sei. Wie er selbst schrieb, fiel ihm am 18. November 1668 ”… ein Handgrif ein / wie die Sinesische Schrift möchte leichte gemacht werden.” Weiter heißt es: “Folgends edirte er mit vorwissen und gnädigster Genehm=haltung S. Churfl. Durchl. zu Brandenburg / seines gnädigsten Herren / Anno 1674 am 24 Febr. Propositionem Clavis Sinicae, das ist / einen Schriftlichen Vortrag von einem (Sinesische) Schlüssel.“ (Andreae Mulleri Greiffenhagii Unschuld/ gegen die hefftige Beschuldigungen, 1683) Und schließlich: “Churfl. Durchl. decretirten am 30. Aprilis desselben Jahres / daß M. diß inventum ein Inventum Brandenburgicum heissen möchte.” Müllers Schlüssel sollte nie erscheinen, sei es aus Mangel an finanziellen Mitteln, sei es wegen schließlich fehlender Druckgenehmigung. Eva Kraft geht davon aus, dass Müller mit dem Schlüssel ein “Lexikon chinesischer Schriftzeichen ohne Ausspracheangaben in Transkription, aber mit Beigabe der Bedeutungen in einer europäischen, tatsächlich der lateinischen Sprache“ geplant habe unter Anordnung des Ganzen in einer “leicht faßbaren Weise …, so daß jeder nach der Benutzungsanleitung und dem Musterbeispiel in der Lage wäre, die gesuchten Schriftzeichen auch zu finden.” (Eva Kraft, Frühe chinesische Studien, 1976) Möglicherweise hat Müllers Idee für eine Clavis Sinica dann auch in ihm den Plan für eine Typographia Sinica reifen lassen.
Es handelt sich dabei um einen äußerlich schlicht anzuschauenden Ladenschrank, in dessen Innerem sich – hinter zwei sparsam profilierten Türen – zehn technisch sehr geschickt konstruierte Auszüge mit Platz für 3287 Drucktypen der Größe 2,5 cm3 verbergen. In Brettbauweise ausgeführt ist er in seiner Konstruktion den oben erwähnten Lewen’schen Schränken sehr ähnlich. Das fast schmuck- und völlig furnierlose, schöne Funktionsmöbel ist aus massivem Eichenholz gefertigt. Der truhenförmige Kabinettschrank mit fein punzierten Eisenbeschlägen steht auf einem Untergestell mit balusterförmigen Füßen, wie sie in der ersten Hälfte des 17. Jh. sehr in Mode waren und sich bis heute in den verschiedenen Sammlungen der Berliner Museen finden lassen. Eine Altersbestimmung des die Drucktypen beherbergenden Möbels war aufgrund der Größe desselben, wesentlich für das Vermessen der Jahresringe, und der verarbeiteten Holzart, deren Chronologie bekannt ist, möglich. Der Berliner Dendrochronologe Dr. Uwe Heußner vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) hat 2018 bei einer Untersuchung der Bodenplatte der Typographia Sinica beruhend auf der Regionalchronologie für die Eiche aus dem Stadtgebiet Berlins ein Fälldatum des Holzes um 1674 ermittelt. Aus restauratorischer Sicht ist nicht auszuschließen, dass das Schränkchen in den vergangenen mehr als 300 Jahren mehrfach überarbeitet wurde und vermutlich auch ursprüngliche Farbfassungen oder Überzüge entfernt worden sind. Verändert wurden irgendwann auch das originale Schloss und der obere Riegel.
Die Drucktypen wurden aus weichem, feinstem maserfreien Birnbaumholz geschnitten. Anatomische Untersuchungen derselben weisen auf die mikroskopisch nicht unterscheidbaren botanischen Gattungen Sorbus (Vogelbeere), Malus (Apfel), Mespilus (Mispel) und Pyrus (Birne) aus der Familie der Rosengewächse hin, während makroskopisch und nach traditioneller Verwendung jedoch auf Birnbaumholz (Pyrus sp.) geschlossen werden kann, wurde es doch traditionell wegen seiner günstigen hygroskopischen und strukturellen Eigenschaften vielfach auch für Holzschnitte und Modeln zur Ausübung verschiedenster Drucktechniken verwendet. Auf einer Seite der Drucktypen sind chinesische Schriftzeichen eingeschnitten, eine Arbeit möglicherweise verrichtet in der Werkstatt des von Andreas Müller bevorzugten Berliner Kupferstechers Gottfried Bartsch (gest. 1690), der von 1674 bis 1684 als Hofkupferstecher in Berlin tätig war, auf deren anderer Seite wurden – sehr wahrscheinlich von Andreas Müller selbst – mit Tinte Zahlen oder besser Nummern aufgetragen. Die Drucktypen haben einen erhabenen Rand, was sie für den Reihensatz unbrauchbar macht und nur den Druck einzeln stehender Zeichen, wie z.B. in einem Wörterbuch erlaubt. Die Drucktypen liegen in keiner erkennbaren Ordnung in den Schubfächern. Ein Versuch aus dem Jahr 1953, eine solche Ordnung – nach Radikal und Anzahl der zusätzlichen Striche – herzustellen wurde wegen des fehlenden praktischen Nutzens abgebrochen: Da die Drucktypen mit der Schriftzeichenseite nach oben liegen, sind die auf den Seitenflächen angebrachten Ordnungsvermerke nicht sichtbar, ein gesuchtes Zeichen kann somit nicht auf Anhieb aus der Menge herausgefunden werden. (Johann Dill, Die Typographia Sinica in der Asien-Afrika-Abteilung der Deutschen Staatsbibliothek, 1985). Daneben finden sich in der untersten Lade kleinere chinesische Drucktypen aus der Hand Müllers (sie entstammen einem Brief Müllers an Athanasius Kircher vom 27. Januar 1675 und geben ein Zitat aus dem konfuzianischen Klassiker Zhongyong 中庸, „Maß und Mitte“ wieder) und seines Kollegen Mentzel (er ließ sie für die Verwendung in seiner Sylloge Minutiarum lexici Latino-Sinico-Characteristici, Nürnberg 1685 anfertigen) sowie syrische aus der Hand des ersten (Zitate von der Nestorianischen Stele von 781 aus Xi’an, die sich u.a. in Athanasius Kirchers China monumentis …, Amsterdam 1667, abgebildet findet und Müller als Vorbild gedient haben dürfte).
Nach den frühesten Bemühungen zum Druck chinesischer Zeichen in Europa, der erstmals in Missionsberichten und geografischen Werken in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Carta del padre Balthasar Gago de Iapõ … von 1555 und Theatrum orbis terrarum des Abraham Ortelius von 1570 sowie Historia de las cosas mas notables … dela China des Juan Gonzalez de Mendoça von 1585) nachweisbar ist, stellt die Typographia Sinica wohl den ersten Versuch dar, in Europa einen Grundstock chinesischer Schriftzeichen herzustellen. Andreas Müller überließ sie der Kurfürstlichen Bibliothek bei seiner Verabschiedung aus dem Amt im Jahr 1685.
Während andere historisch belegte Sammlungsschränke aus dem kurfürstlichen Schloss den wechselnden Umständen im Laufe der Jahrhunderte zum Opfer gefallen sind, ist uns – vielleicht wegen der Schlichtheit ihrer äußeren Erscheinung – die Typographia Sinica als Zeitzeugnis und Gegenstand auch künftiger sinologischer Forschung erhalten geblieben. Sie ist nun sozusagen an den „Ort ihrer Kindheit“ zurückgekehrt und wird von heute an für zunächst fünf Jahre als Teil der 1.500 qm umfassenden Dauerausstellung zum Thema „Spuren des Ortes“ im Humboldt Forum zu sehen sein.