Zehn Jahre nach der Dreifachkatastrophe in Japan
Am 11. März 2021 jährt sich die Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima im Nordosten Japans zum zehnten Mal. Die Staatsbibliothek zu Berlin erwirbt im Rahmen der Betreuung des Fachinformationsdienstes Asien laufend Titel zu diesem Themenkomplex für ihre Sammlung, um die Entwicklung und Aufarbeitung zu dokumentieren. In einem früheren Blogartikel wurde bereits die Vielzahl der in der Fachliteratur behandelten Sujets vorgestellt. Inzwischen sind sowohl die japanischsprachigen als auch die westlichsprachigen Titel der Sammlung gemeinsam im Stabikat nachgewiesen. Je nach Suchstichwort können Werke in der jeweiligen Sprache gefunden werden. Es empfehlen sich Einstiege mit Schlag- oder Stichworten wie beispielsweise 東日本大震災 (2011) [Großes Erdbeben von Ostjapan (2011)], 福島第一原発事故 (2011) [Reaktorunfall des Kraftwerks Fukushima I (2011)], 復興 [Wiederaufbau], 被災者支援 [Unterstützung Geschädigter], 放射線障害 [Strahlenschäden] oder „Japan“ in Kombination mit Begriffen wie „Erdbeben / Tsunami / Naturkatastrophe / Kernkraftwerk Fukushima / Reaktorunfall“ .
Sollten Sie Titel in der Sammlung vermissen, so teilen Sie uns gerne Ihre Anschaffungswünsche mit. Dafür stehen Ihnen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung:
- Angehörige von Instituten, die an den Blauen Leihverkehr (BLV) angeschlossen sind, nutzen bitte das Leerformular für den BLV.
- Nutzer:innen vor Ort in Berlin füllen bitte das Formular für Anschaffungsvorschläge der Staatsbibliothek aus.
- Aus der CrossAsia Suche heraus können Sie uns Titel nach Auswahl des Filters „Patron-Driven-Acquisition (PDA) Index“ direkt über den Button „Für Erwerb vorschlagen“ mitteilen, der Sie in das Formular für PDA-Anschaffungsvorschläge auf der CrossAsia Webseite führt.
Seit der Dreifachkatastrophe sind zahlreiche Webseiten entstanden, die sich in unterschiedlicher Art und Weise mit dem Themenkomplex befassen. Die folgende kleine Auswahl ist keine spezielle Leseempfehlung des CrossAsia-Teams, sondern versteht sich als ein Angebot an ggf. für die Forschung bzw. forschungsnahe Lehre relevanten Seiten; darüber hinaus wird ein Schlaglicht auf die Bandbreite der behandelten Themen, sowie auf mögliche Formen der Aufbereitung geworfen.
Big Data, Visualisierungen, interaktive Karten
Sehr aktiv im Hinblick auf neue mediale Präsentationen von Erinnerungskultur ist WATANAVE Hidenori (渡邉英徳), Professor an der Universität Tokyo an der Graduate School of Interdisciplinary Information Studies. Einen Überblick über seine bisherigen Projekte bietet die Webseite seines Studios.
Das aktuellste Projekt aus Anlass des zehnten Jahrestages ist eine Zusammenarbeit mit der Zeitung Iwate Nippô. Die Webseite „Wasurenai“ („We shall never forget“) umfasst drei Bereiche:
- Basierend auf Interviews mit Hinterbliebenen wurden deren Wohnverhältnisse in den zehn Jahren seit der Katastrophe nach Art der Unterkunft und Anzahl der Umzüge auf einer Karte visualisiert.
- Die Inhalte der Interviews wurden maschinell analysiert hinsichtlich Problemen und psychischer Folgen im Zusammenhang mit der Wohnsituation sowie das Ergebnis graphisch aufgearbeitet.
- Die seit 2016 frei geschaltete interaktive Karte “We Shall Never Forget – Last Movements of Tsunami Disaster Victims” (忘れない:震災犠牲者の行動記録) wurde aktualisiert und, sofern die Zustimmung der Hinterbliebenen vorlag, mit den Namen der Opfer versehen. Die englische Einführung zur Webseite scheint auf der Version von 2016 zu beruhen.
In einem weiteren Visualisierungsprojekt von Prof. Watanave sind Tweets des Nachrichtendienstes Twitter aus den 24 Stunden nach dem Erbeben vom 11.03.2011, die über Geo-Tags verfügten, auf einer Japankarte verortet (東日本大震災ツイートマッピング). Sowohl die Texte der Tweets als auch die Standorte können durchsucht werden.
Die als Verein eingetragene Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) hat eine Ausstellung in Form einer interaktiven Weltkarte erstellt, welche die Folgen der Nuklearwirtschaft für Mensch und Umwelt aufzeigt. Dort ist die Reaktorkatastrophe von Fukushima nur einer von vielen Orten auf dem Globus.
Filmische Aufarbeitungen
Die NPO UniJapan betreibt gemeinsam mit der Japan Foundation die „Japanese Film Database“ (日本映画データベース), in der aktuell rund 6100 japanische Filme auf Japanisch und Englisch beschrieben werden. Da die Suche nicht nur Titelstichworte oder beteiligte Personen, sondern ebenso die Kurzbeschreibungen der Filme umfasst, lassen sich mit den einschlägigen Stichworten wie 東日本大震災, „Fukushima“, „radioactivity“ oder „nuclear“ sehr einfach relevante Filme finden.
Relativ ergiebig ist ebenfalls eine Recherche in der Datenbank „allcinema“, der Firma Stingray, in der neben Filmen auch TV-Serien verzeichnet sind und die sich selbst als größte Film-Datenbank Japans bezeichnet. Die Webseite liegt nur auf Japanisch vor.
Die Anzahl an japanischen Filmen, die es in deutsche Kinos schaffen, ist begrenzt; insofern spielen Filmfestivals eine wichtige Rolle. In Deutschland stehen sowohl beim Japan-Filmfest Hamburg als auch beim Filmfestival Nippon Connection in Frankfurt am Main der japanische Film im Mittelpunkt. Die Webseiten der beiden Festivals verfügen über Archive, auf denen man nach den dort gezeigten Filmen zur Dreifachkatastrophe suchen kann.
Eine Recherche im Archiv der Berlinale fördert ebenfalls eine Reihe von Filmen zutage, welche die Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima künstlerisch aufarbeiten oder im Film dokumentieren.
Das International Uranium Film Festival wurde 2010 in Rio de Janeiro gegründet und hat sich der Aufklärung über die Gefahren der Atomkraft verschrieben. In diesem Jahr stehen ab dem 11. März für sieben Tage zwei Filme online, die sich ebenfalls mit den Geschehnissen im Kernkraftwerk Fukushima auseinandersetzen:
- „Fukushima no Daimyo“, Italien, 2014, Regisseur: Alessandro Tesei, Dokumentation, 20 Minuten, Japanisch mit Untertiteln auf Portugiesisch oder Englisch
- „Ranga Yogeshwar in Fukushima – Japans Kampf gegen die Radioaktivität“, Deutschland, 2014, Regisseure: Reinhart Brüning, Ranga Yogeshwar, Thomas Hallet, Wolfgang Lemme, Dokumentation, 43 Minuten, deutsche Originalfassung oder Englisch mit portugiesischen Untertiteln
Forschungsprojekte in Deutschland
Direkt im Anschluss an die Katastrophe gründete sich im April 2011 die „Textinitiative Fukushima“, an der sich die kulturwissenschaftlich orientierten Japanologien an den Universitäten in Frankfurt, Leipzig und Zürich beteiligen. Die Initiative hat sich die Aufgabe gestellt, Texte unterschiedlicher japanischer Akteur:innen ins Deutsche zu übersetzen und zu kommentieren. Das Ziel ist es, den Diskurs um Fukushima sowie im weiteren Sinne die japanische Atomdebatte kritisch zu beleuchten.
Gemeinschaftlich wird derzeit das DFG-Projekt „Die gespaltene Gesellschaft: Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe (genbaku) und Atomkraftwerk (genpatsu)“ bearbeitet. Das von der Japanologie der Universität Köln bearbeitete Teilprojekt setzt sich mit literarischen Bearbeitungen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (genbaku bungaku) auseinander, während die Japanologie der Universität Leipzig sich mit visuellen Darstellungen der zivil genutzten Atomkraft beschäftigt.
Angebote der National Diet Library (NDL) in Tokyo
Mit „Hinagiku“ (Hybrid Infrastructure for National Archive of the Great East Japan Earthquake and Innovative Knowledge Utilization, aber auch jap. für „Gänseblümchen” als Symbol der Hoffnung, Zukunft, Sympathie) hat die NDL ein Metasuchportal geschaffen, über welches die Bestände mit Bezug zur Dreifachkatastrophe in zahlreichen Archive, Bibliotheken und anderen Einrichtungen in Japan gleichzeitig recherchiert werden können. Die Bandbreite der Nachweise umfasst neben gedruckten Werken auch Fotos, Webseiten sowie Audio- und Filmmaterial. Die Liste der beteiligten Institutionen kann eingesehen werden.
In ihrem „Current Awareness Portal“ berichtet die NDL laufend Neuigkeiten aus der Welt japanischer Bibliotheken, Archive und anderer Informationseinrichtungen wie neue Portale, Ausstellungen oder Datenbankangebote. Aus aktuellem Anlass wurde eine Unterseite für das Thema „Erdbebenkatastrophe“ (震災) eingerichtet, welche einen sehr übersichtlichen Einstieg zu einschlägigen Mitteilungen bietet. Über die Liste lassen sich leicht weitere relevante Webseiten ermitteln. Natürlich kann das Current Awareness Portal ebenso nach anderen Themen durchsucht werden.
„Research Navi“ (リサーチ・ナビ) ist das Auskunftstool der NDL. Es bietet Rechercheanleitungen, Literaturlisten und Übersichten zu nützlichen Nachschlagewerken oder einschlägigen Webseiten für alle nur denkbaren Themen. Die Suche nach dem Stichwort „Große Erdbebenkatastrophe von Ostjapan“ (東日本大震災) ergibt zahlreiche Treffer, darunter zum Beispiel eine Literaturliste mit Fotobildbänden der Präfektur Miyagi (宮城県の写真集), die das Ausmaß des Unglücks dokumentieren oder eine Linksammlung mit juristischen Informationen mit Bezug zur Dreifachkatastrophe (東日本大震災関連の法情報リンク集).
In der „Collaborative Reference Database“ (レファレンス共同データベース) werden die Antworten auf Auskunftsanfragen, die von allgemeinem Interessen sein könnten, aus Bibliotheken in ganz Japan öffentlich einsehbar gemacht. So wurde beispielsweise Auskunft bei der Präfekturbibliothek Iwate darüber erbeten, wie Informationen bzgl. der in der Präfektur Iwate errichteten Behelfsunterkünfte zu finden seien. Neben der eigentlichen Antwort werden der Rechercheweg und die verwendeten Auskunftsmittel, wie Datenbanken oder Lexika aufgelistet. Die „Collaborative Reference Database“ kann mit Stichworten durchsucht werden. Zusätzlich gibt es eine sehr umfangreiche Unterseite für den Bereich „Erdbeben, Katastrophen“.
Materialien zu historischen Katastrophen
In der Edo-Zeit wurden Neuigkeiten und darunter auch Naturkatastrophen häufig über eilig gedruckte Flugblätter, so genannte kawaraban (瓦版) verbreitet. Ein weiteres Druckerzeugnis, das eng mit der Erdbebenthematik verbunden ist, ist das Genre der namazue (鯰絵). Es handelt sich dabei um Farbholzschnitte mit Darstellungen eines mythischen Riesenwelses (ônamazu 大鯰), der als Verursacher von Erdbeben angesehen wurde. Ihren Beginn nahmen die namazue mit dem Ansei-Edo-Erdbeben von 1855.
In seinem digitalen Handbuch „Religion in Japan“ stellt Bernhard Scheid (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens) ausführlich typische Motive der namazue sowie deren mythologischen Hintergrund dar. Die Seite ist nicht nur höchst informativ, sondern auch sehr anschaulich gestaltet. Weiterführende Links und Literaturhinweise laden ein, sich weiter in das Thema zu vertiefen.
Die Bibliothek der Universität Tokyo beherbergt eine Sammlung von kawaraban, namazue, Zeitungsbeilagen etc., die aus Anlass von Erdbeben im 19. Jahrhundert gedruckt worden waren. Diese so genannte Ishimoto-Sammlung aus dem Besitz des zweiten Direktors des Erdbeben-Forschungsinstituts der Universität Tokyo, ISHIMOTO Mishio (1893-1940) wird auf einer Webseite in sehr nutzerfreundlicher Weise präsentiert. Es kann nicht nur nach unterschiedlichen Aspekten gesucht werden, sondern das komplette Datenset ist im IIIF-Standard via GitHub erhältlich. Der Ausstellungskatalog „Kawaraban, namazue ni miru Edo, Meiji no saigai jôhô : Ishimoto korekushon kara“ ( かわら版・鯰絵にみる江戸・明治の災害情報 : 石本コレクションから) aus dem Jahr 2008 zur Ishimoto-Sammlung ist darüber hinaus im Open Access zugänglich.
Im Besitz des Nichibunken (International Research Center for Japanese Studies) in Kyoto befindet sich eine Sammlung von 87 namazue, welche digital präsentiert, aber leider nicht durchsuchbar sind. Die Bildbezeichnungen beruhen auf dem Gesamtverzeichnis von namazue (鯰絵総目録) in „Namazue : shinsai to nihon bunka“ [Namazue : Erdbebenkatastrophen und die Kultur Japans] herausgegeben von MIYATA Noboru und TAKADA Mamoru (Tôkyô : Ribun Shuppan, 1995; 鯰絵 : 震災と日本文化 / 宮田登, 高田衛監修. 東京 : 里文出版, 1995). Das Werk befindet sich auch in der Sammlung der Staatsbibliothek (Signatur: 4“ 963106).
Eine Expertengruppe des zentralen Katastrophenschutz-Komitees (中央防災会議), die sich mit Lehren aus früheren Desastern beschäftigt, hat sich in ihrem Bericht aus dem Jahr 2004 intensiv mit dem Ansei-Edo-Erdbeben von 1855 auseinandergesetzt. Der Bericht ist auf der Webseite für „Disaster Management in Japan“ des japanischen Kabinettbüros im Open Access zugänglich: 1855 Ansei Edo jishin hôkokusho. [Tôkyô] : Chûô Bôsai Gikai, Saigai Kyôkun no Keijô ni kansuru Senmon Chôsakai, 2004 (1855安政江戸地震報告書. [東京] : 中央防災会議, 災害教訓の継承に関する専門調査会, 2004). Kapitel 3 des Berichts bietet ausführliche Erläuterungen zu namazue aus dem Besitz unterschiedlicher Archive und Bibliotheken.
Jahre vor der Dreifachkatastrophe hat sich das japanische Nationalarchiv (国立公文書館) in seiner Frühjahrsausstellung 2003 mit dem Titel „Tenka taihen“ (天下大変 [Die Welt im Schrecken]) Naturkatastrophen in der Edo-Zeit wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Überflutungen und Seuchen gewidmet. Die Ausstellung ist digital weiterhin verfügbar und gibt einen sehr anschaulichen Überblick über vormoderne Werke zu den einzelnen Ereignissen.
Über das Headerbild
In den digitalisierten Sammlungen der Staatsbibliothek findet sich das Werk „Ansei kenmonroku“ (安政見聞録, 1856, Signatur: 42586 ROA), aus dem das Headerbild zu diesem Blogbeitrag stammt. Es behandelt das große Ansei-Edo-Erdbeben von 1855. Mit höchst eindrücklichen Illustrationen sowie Schilderungen persönlicher Erlebnisse, die teilweise einen moralisch-lehrhaften Charakter haben, soll für die Leserschaft ein möglichst unmittelbares Bild der Geschehnisse gezeichnet werden.